Kirchenkrise oder Krise des unterkomplexen Lösungsversuchs Hierarchie?

Kirchenkrise

Unter PR-Aufmerksamkeitsgesichtspunkten hat die katholische Kirche gestern mal wieder einen Vogel abgeschossen: Man hat es zum Aufmacher in den Hauptnachrichten und zu einem Brennpunkt nach der 20:00 Uhr Tagesschau gebracht. Der Werbeplatz für einen 10-Minuten-Spot wäre jedenfalls sehr teuer gewesen. Beim Nachdenken über diesen Werbespot der etwas anderen Art beschäftigt mich eine Frage: Ist das, was dort im Zuge der so benannten Aufarbeitung des Missbrauchsskandals offenbar wird, tatsächlich lediglich eine Kirchenkrise der katholischen Kirche oder gar - noch enger - nur eine Ansammlung persönlicher Verfehlungen handelnder Personen im Umgang mit abscheulichen Taten von Mitgliedern der Organisation Kirche? Für mich ist es vielmehr auch das Paradebeispiel des untauglichen Versuchs, komplexen Problemen mit einem unterkomplexen Lösungsversuch zu begegnen. Dies bedeutet hier eine durch Formalmacht (in diesem Fall sogar ausdrücklich heiliger formaler Macht) legitimierte Hierarchie. An dem Beispiel wird - neben den Abgründen menschlichen Handelns - die Krise des hierarchischen Steuerns von lebenden Systemen nur allzu deutlich. Damit ist es auch die Krise eines Lösungsversuchs, der in vielen Unternehmen als Management praktiziert wird. 

 

Mit einem Blick zu Wikipedia findet man den Ursprung des Begriffs Hierarchie: Ein alt-griechisches Wort, das übersetzt so viel bedeutet wie Herrschaft des Heiligen und sich ursprünglich auf die Religion bezog. Herrschen bedeutet in der Konsequenz, Macht über andere ausüben bzw. ihr Verhalten auch gegen deren eigene Absichten beeinflussen zu können. Dies geschieht in einer Systematik von Über- und Unterordnung. An der Spitze steht also begriffsmäßig und in der katholischen Kirche „lehrbuchmäßig“ abgebildet etwas Heiliges, etwas Besonderes und etwas in besonderer Weise inspiriertes, das die Inspiration von oben nach unten durch die Organisation fließen läßt. Als das besonders Qualifizierte - absolut Beste - steht im klassischen Management der Vorstandsvorsitzende oder Sprecher der Geschäftsführung an dieser Spitze. Das entsprechende klassische Organigramm eines Stab-Linien-organisierten Unternehmens unterscheidet sich also alles andere als zufällig kaum bis gar nicht von dem der katholischen Kirche. Fun Fact: Die Vorurteile - oder auch Erfahrungswerte - und Geschichten, denen das oder mit denen man dem Controlling begegnet, sind nicht selten eine Metapher auf die Glaubenskongregation der katholischen Kirche, deren Vorläufer die Heilige Inquisition war. Ersatzweise gelangen auch Lenkungsausschüsse von Projekten in diesen Geschichten-Raum. 

 

Wenn also das Heilige ganz oben steht und seine Heiligkeit nach unten weitergibt (und dabei auch Entscheidungen über Stellenbesetzungen nach unten durchgesteuert werden), dann ist ein Irren oder Nicht-Wissen natürlich nur schwer vorstellbar. Es würde die Legitimation der Macht in erheblicher Weise gefährden. Also ist aus der inneren Logik eines solchen Systems nur zu verstehbar, dass das Verdecken von Problemen und Phänomenen des Scheiterns (also nichts anderem als nicht gelungenen Lösungsversuchen) als systemerhaltende bzw. herrschaftserhaltende Methode genutzt wird. Gleichzeitig müssen Entscheidungen, je wichtiger sie eingeschätzt werden, folgerichtig auch immer weiter oben getroffen werden, um die Deutungshoheit zu erhalten. Welche Auswirkungen das in der katholischen Kirche offenbar hatte, ist gerade wieder beobachtbar.

 

Und in Unternehmen? Dort beobachtet man unter anderem laut der jährlichen Gallup-Studie fortlaufend große Anteile von Mitarbeitern in der inneren Kündigung und gestresste oder gar ausgebrannte Manager, die den vielfältigen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können. In einer Welt, in der Wissen exponentiell wächst, Märkte sich extrem schnell verändern, Aufgaben immer mehr werden und viele Lösungswege plausibel erscheinen, ist die Idee von dem einen oder den wenigen Besten „da oben“ eine Hoffnung auf eine Lösung, die immer wieder enttäuscht wird. Und gleichzeitig stellen andere Lösungsversuche, die eine adäquatere Antwort auf zunehmend komplexe Probleme geben können (wie z.B. Selbstorganisation, agile Organisationsentwicklung usw.), viele der Sicherheit gebenden Erfahrungen und Gewissheiten in Frage. Also ist es auch hier nur nachvollziehbar, warum manches in Unternehmen so schwer und schwerfällig erscheint und letztlich auch viele tradierte Unternehmen scheitern, wenn sie ihre grundsätzliche Verfasstheit und ihre Kultur von Führung und Zusammenarbeit nicht in Frage stellen und sich der Unsicherheit nicht stellen - oder dies lediglich über noch mehr Kontrolle versuchen. 

 

Oder um das aktuelle Thema wieder aufzugreifen: Welche selbstorganisierte, am „Markt“ tätige und dessen Stimme hörende Gemeinde hätte jenem Pfarrer H. weiterhin die Möglichkeiten gegeben, die ihm - und offenbar noch so vielen anderen - die Hierarchie anscheinend gegeben hat. Seien wir gespannt, wie sich der Lösungsversuch Hierarchie in welchem System auch immer in der Zukunft so schlägt.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0